So ein braves Kind!

Alle strahlen. Nur ich nicht.

Wenn ich einen Wunsch frei hätte, so wünschte ich mir, dass das Wort „brav“ aus unserem Wortschatz gestrichen würde. Es wird nicht (mehr) gebraucht. Zumindest nicht so, wie wir es kennen. Denn paradoxerweise wurde es in seiner ursprünglichen Bedeutung mal ganz anders genutzt. Es ist verwandt mit dem italienischen BRAVO, welches wiederum auf das lateinische BARBARUS zurückgeht und das bedeutet „fremd, wild, ungesittet“. Wer an welcher Stelle sprachhistorisch falsch abgebogen ist, das müsste noch geprüft werden. Fest steht, dass wir mittlerweile eher bei der gegenteiligen Bedeutung angekommen sind.

Heutzutage ist ein braves Kind ein gehorsames, artiges, ruhiges. Eines, das nicht zu laut ist, das nicht widerspricht, das „lieb“ ist,… Und diese Vorstellung könnte nicht weiter entfernt sein vom Alltag in Familien mit (kleinen) Kindern. Da ist es laut, es wird gestritten, phasenweise gehauen und gebissen. Die Kinder reden beim Essen mit vollem Mund, sie fassen mit klebrigen Fingern die Bücher im Regal an. Bei 2-3-jährigen besteht die Hauptbeschäftigung der Eltern beim Essen darin, Verschüttetes aufzuwischen („Ich kann das selber!“). Alle reden durcheinander, ein „erwachsenes“ Gespräch mit ganzen Sätzen, die mehr als 3 Worte beinhalten: undenkbar. Zwischendurch Wutanfälle auf der einen Seite oder totale Jubelstürme auf der anderen Seite. Von BRAV fehlt jede Spur. 

 

Was wollen wir vom braven Kind? Ein Erklärungsversuch.

Wenn die Realität in den Familien, also die Praxis so viel anders aussieht als die Theorie, die wir alle in unseren Köpfen haben: was lässt uns so verbissen an der Mär vom BRAVEN Kind festhalten? Welches Bedürfnis steckt wirklich dahinter? Ein paar Erklärungsansätze.

Ein braves Kind

  • kann sich gut einfügen und wird später keine Probleme kriegen.
  • ist der Beweis dafür, dass ich mein Kind gut erzogen und meine Arbeit als Mutter/Vater gut gemacht habe.
  • ist angenehm, weil es keinen Stress macht.
  • (falls Dir noch eine Erklärung einfällt, gerne selber ergänzen).

All diese Erklärungsversuche haben eins gemeinsam: sie machen das Kind zum Objekt von etwas, meist von meinen Wünschen und Zielen, die ich auf mein Kind übertrage. Ist es jetzt also verwerflich, sich für sein Kind was zu wünschen, z.B. ein gutes Leben? An sich erstmal nicht, solange ich mir bewusst darüber bin, dass es MEINE Wünsche und Ziele sind und ich nach wie vor bei MIR bin und nicht bei meinem Kind. Ich kann hier und jetzt einfach nicht sagen, was mein Kind später unter einem „guten Leben“ verstehen wird: zu vielfältig sind die Möglichkeiten und die Lebensmodelle mittlerweile.

Schauen wir uns die einzelnen Erklärungen im Detail an:

Ein braves Kind kann sich gut einfügen und wird später keine Probleme kriegen.

Mit dieser Aussage bin ich noch am ehesten bei meinem Kind. Und trotzdem sollten wir sie kritisch betrachten. Mein Kind, das sich gut einfügt, wird später im Berufsleben vielleicht schnell übersehen, weil es sich nicht so zeigen traut, wie es wirklich ist – mit all seinen Stärken und Talenten. Mein Kind, das eher gehorcht als Widerworte zu geben, dem fehlt es an Selbstbewusstsein/-sicherheit, wenn es (sexuell oder wie auch immer) bedrängt wird. Es spürt seine Grenzen sicherlich deutlich, hat aber nicht gelernt, diese kund zu tun und dafür einzustehen. Somit kann es sehr wohl Probleme kriegen.


Ein braves Kind ist der Beweis dafür, dass ich mein Kind gut erzogen und meine Arbeit als Mutter/Vater gut gemacht habe.

Hier bin ich schon mehr bei mir, denn es geht darum, in welchem Licht ich erscheine, wie andere mich sehen in meiner Rolle als Mutter/Vater. Als soziale Wesen ist es für uns Menschen wichtig, wie unser Umfeld uns wahrnimmt, wir brauchen die Fremdwahrnehmung zum Abgleich, keine Frage. An diesem Punkt jedoch habe ich den Eindruck, dass sich unser Selbstbild nahezu vollständig von außen nährt und wir in uns wenig darüber finden, wie wir als Mutter/Vater sein wollen. 

Woher das kommt? Ich vermute zum Einen daher, dass wir bestimmte Dinge einfach ohne sie zu hinterfragen übernehmen, z.B. aus unserer eigenen Erziehung. Nicht alles passt aber zwangsläufig zu uns als Mutter/Vater und unserer Idee von Familie. Und zum Anderen, weil wir in das Kapitel Elternschaft so ein bisschen hineinschlittern. Dabei wäre das DIE Gelegenheit, sich damit auseinanderzusetzen, welche Mutter oder welcher Vater man genau sein möchte. Was bedeutet Familie für mich/uns und wie wollen wir das gemeinsam gestalten? Um letztendlich dahin zu kommen, dass es nicht immer perfekt sein muss, sondern GUT GENUG auch völlig ausreichend ist. Mit dieser Überzeugung, tief in uns verankert, könnten wir uns frei machen von Bewertungen von außen.


Ein braves Kind ist angenehm, weil es keinen Stress macht.

Wer beim Essen schon mal gefühlt achtarmig jonglieren musste, weil zwei Kinder auf dem Schoß, während Kind 1 sich grad das Wasser in den Becher kippt (Ihr wisst schon „Ich kann das selber!“), man Kind 2 das Essen kalt pustet und parallel sich selbst ein Stück abschneidet, der kennt den Wunsch nach Harmonie am Tisch: zwei Kinder jeweils auf dem eigenen Stuhl sitzend, die nicht kleckern, sich ruhig unterhalten, selber essen (schneiden und kalt pusten inklusive), während wir Erwachsenen uns ohne Unterbrechung vom Tag erzählen… 

Was erst einmal gut klingt, wird bei näherer Betrachtung ziemlich langweilig. Ich hab erst kürzlich den Satz gelesen (leider weiß ich nicht mehr wo) „Wo nichts passiert, passiert halt einfach auch nichts.“ und fand ihn ziemlich treffend. Wo keine Reibungspunkte sind, kann Beziehung sich nicht entwickeln, können Identitäten sich nicht formen. Wir brauchen den sozialen Austausch und ja, auch die Konflikte und Diskussionen. Ok, der 328. verschüttete Becher muss wirklich nicht sein, aber der war halt im Paket mit dabei. :) 

Ich weiß nicht, welche Erklärungsansätze Du noch gefunden hast, aber ich vermute, sie gehen in eine ähnliche Richtung.

 

Was wäre, wenn…

…wir nun tatsächlich einen Schritt zurückgehen und die ursprüngliche Bedeutung des Wortes BRAV ansetzen: fremd, wild, ungesittet? Im ersten Moment ertappe ich mich selbst dabei, wie ich mir denke „Ich will nicht, dass mir mein Kind fremd ist.“ Bei näherer Betrachtung erkenne ich jedoch, dass das Wort FREMD mehrere Bedeutungen hat, u.a. UNBEKANNT. Und plötzlich spüre ich eine Art Neugier, die mich packt. Ich möchte dieses UNBEKANNTE (Kind) näher kennenlernen, erfahren und verstehen, was es bewegt, was es antreibt, wofür es sich begeistert. Wo liegen seine Stärken und Talente, was denkt es über die Welt und die Menschen in ihr? Und auf einmal entsteht ganz viel Raum. Ich bin nicht mehr länger bei mir und meinen Wünschen und Zielen, sondern bei meinem Kind mit seiner individuellen Persönlichkeit. Es ist nicht mehr länger Objekt von etwas (meinen Vorstellungen, bestimmten Erziehungsmethoden,…), sondern Subjekt. 

Menschen sind einzigartig – Erwachsene wie Kinder oder wie Maria Montessori sagte: 

Und doch ist das Kind – wie alle menschlichen Wesen – eine freie Persönlichkeit.

Geben wir Kindern den Raum, in dem sie diese Persönlichkeit frei entfalten dürfen. Wild und ungesittet.

Bleibt rosa. 
Eure Ramona