Sehr viele Eltern kennen das afrikanische Sprichwort 

Um ein Kind groß zu ziehen, braucht es ein ganzes Dorf. 

Mir selbst ist dieser Satz schon relativ früh, nachdem ich zum ersten Mal Mutter geworden bin, begegnet. Ich muss zugeben, es hat eine Weile gedauert bis ich ihn verstanden habe.

Was ist denn eigentlich dieses Dorf?
In meiner Wahrnehmung geht es um zwei wesentliche Punkte: erstens um Vielfalt in zwischenmenschlichen Begegnungen und zweitens um ein Netz, das die kleine Familie stärkt und wenn´s ganz arg brenzlig wird, auffängt und eine Weile trägt.

Zu Punkt 1, der Vielfalt in zwischenmenschlichen Begegnungen: Kinder lernen Vielfalt kennen, indem sie sie kennenlernen DÜRFEN. Das klingt trivial, ist es aber nicht immer. Gemeint ist eine Vielfalt an Menschen, an Beziehungen, an Impulsen, ja auch an Widersprüchen. Natürlich ist das vielleicht nicht ab dem ersten Tag nach der Geburt relevant, schließlich ist es wichtig, dass sich die Mitglieder der neu gegründeten Familie erstmal gegenseitig kennenlernen. So nach und nach kommen jedoch immer mehr Menschen dazu, die als Modelle fungieren und somit den Kindern Möglichkeiten bieten, im Miteinander Erfahrungen zu sammeln, zu lernen und sich zu entwickeln.

Ein sehr einfaches und sehr klassisches Beispiel, das gern für Zündstoff sorgt (auch bei uns war das so, keine Sorge): Süßigkeiten, bei uns Eltern verpönt – zumindest bis zum 4. Geburtstag von Kind #1 – werden bei Oma und Opa mit vollen Händen gegeben. Und beides darf sein. So erfahren Kinder, dass es Regeln gibt, die jedoch nicht immer und überall gelten müssen oder ein Stück weit verhandelbar sind. Was macht das mit unseren Kindern? Sie fangen an zu hinterfragen, zu diskutieren und beugen sich nicht einfach gehorsam dem Willen einer vermeintlichen Autorität. Diese Haltung könnte bereits im Teenageralter schon hilfreich für´s eigene Kind sein. ;)

Zu Punkt 2, dem Netz, das stärkt und trägt: Wir alle kennen diese wilden Zeiten, in denen wir Eltern uns förmlich zerreißen zwischen unseren gefühlt 23 Rollen (wer´s vergessen hat: war auch vor Corona schon so). Was sind wir nicht alles? Partner:in, Mutter oder Vater, Freund:in, Arbeitnehmer:in, Kolleg:in, Ich… Konflikte, vor allem innere Konflikte in uns selbst, sind vorprogrammiert.

Wenn man dann als Eltern quasi auf sich gestellt ist, weil es keine weitere Unterstützung gibt, dann leert sich der Energietank schneller als die Augustinerfässer auf dem Oktoberfest. Es braucht mehr als 1-2 Menschen, um eines oder mehrere Kinder großzuziehen, und zwar vor allem für die 1-2 Menschen. In vielen Familien herrscht allerdings der Irrglaube vor, man müsse das allein hinkriegen, weil alle anderen kriegen das doch auch hin. Pssst, jetzt kommt kein Spoiler, sondern die nackte Wahrheit: KEINE FAMILIE KRIEGT IMMER ALLES HIN.

Ich werde bei Generalisierungen grundsätzlich hellhörig, aber in diesem Fall kann ich ruhigen Gewissens auch noch ein beherztes NIEMALS dazu schreiben. Warum? Weil jede:r eine völlig andere Vorstellung von „etwas hinkriegen“ hat: der Eine meint den hart erkämpften Haarschnitt des 2-Jährigen in der Autonomiephase, die Andere die von der Oma als so wichtig erachteten Tischmanieren der 12-Jährigen und der Nächste klopft sich auf die Schulter, weil das Kind in der Grundschule schon fließend Suaheli kann oder auf einem Bein stehend die Haare föhnen…

An diesem Punkt ist es einfach wahnsinnig hilfreich, nicht allein zu sein, denn Alleinsein schafft Unsicherheit und Zweifel. Im Austausch und im Miteinander ergeben sich Impulse, bietet sich Hilfe an oder warten Möglichkeiten, die vorher nicht da waren.

Und wie sieht DEIN Dorf aus?
Im klassischen Sinne denkt man ja wirklich an ein Dorf, vielleicht sogar an ein Mehrgenerationenhaus in diesem Dorf, in dem sich alle unter die Arme greifen und helfen. Das ist vermutlich bei den wenigsten der Fall. Wem das vorher noch nicht bewusst war, dem hat Corona denke ich nochmal ordentlich gezeigt, wo der Frosch die Locken hat.

Ich denke, es braucht eine neue oder zumindest angepasste Definition für dieses Dorf, da die meisten sich im Laufe der beruflichen Laufbahn vom Heimatort wegbewegen und in der Regel auch wegbleiben: Bei dem Einen sind es die eigenen Eltern, die Andere holt sich Unterstützung durch eine Putzkraft oder es gibt eine kleine Gemeinschaft aus Nachbarn oder befreundeten Eltern, die sich regelmäßig unter die Arme greifen (Tipps, Erledigung von Einkäufen, Beaufsichtigen der Kinder,…). Die Zusammensetzung und damit verbunden die Eigenschaften dieses „Dorfes“ sind so individuell wie jede einzelne Familie es ist.

Folgende Fragen können Euch helfen, Euer „Dorf“ zu finden:

  • Von wem holst Du Dir oder bekommst Du immer gute Tipps rundum Elternschaft, Haushalt & Co.? Wenn es den/die noch nicht gibt, wer könnte das sein?
    Ich denke an die befreundete Mutter vom Spielplatz mit der Du Dich immer so gerne austauschst oder an den Nachbarn, der sich mit handwerklichen Aufgaben auskennt.
  • Welche Aufgabe kannst Du temporär und immer wieder mal abgeben? Und wer kann die idealerweise übernehmen? Und am wichtigsten: was machst Du mit der gewonnenen Zeit?
    Ich denke an das befreundete Paar, das so wahnsinnig gut mit Euren Kindern kann und daher als Babysitter 1x pro Monat einspringt, während Ihr Zeit zu zweit genießt.
  • Welche Aufgabe magst Du am liebsten sofort abgeben? Und wer wäre dafür der/die Richtige? Und am wichtigsten: was machst Du mit der gewonnenen Zeit?
    Ich denke an den Lieferdienst, der Dir 1-2 x im Monat den Großeinkauf bringt, weil Dich Einkaufen maximal nervt.
  • Welcher tolle Mensch, der nicht in erster Linie mit Euch als Familie was zu tun hat, sollte künftig eine größere Rolle in Eurer Familie spielen? Und wie kann diese Rolle aussehen?
    Ich denke an die Freundin, die leidenschaftliche Fotografin ist, und Eurem Kind zeigt, wie man richtig gute Fotos macht.

Falls Ihr Euch wundert, dass ich hier wenig bis kaum auf die Großeltern eingehe: ich denke, die fallen eh jedem als Erstes ein, da sie auch Teil des ursprünglichen Dorfes sind, wie es in dem afrikanischen Sprichwort gemeint ist. Die Krux ist ja, dass genau die oft nicht greifbar sind – weil sie nicht mehr leben, weil sie zu weit weg sind, um regelmäßig/spontan zu unterstützen oder weil die Beziehung so schwierig ist, dass eine Unterstützung durch sie keine Option darstellt. 

Ich bin sicher, jede Familie – egal, wie sie sich zusammensetzt – findet Ihr individuelles Dorf. Vielleicht magst Du genauer hinschauen oder ein bisschen um die Ecke denken oder demnächst ein Gespräch führen, das vor dem Lesen dieses Beitrags für Dich noch undenkbar war. Allein darüber nachzudenken, eröffnet schon Perspektiven und neue Möglichkeiten.

Bleibt rosa. 
Eure Ramona